Das Geheimnis der Masken: „Ödipus“ am Theater an der Ruhr

Ödipus im Theater an der Ruhr: Menschwerdung der Aliens durch die Maske. Fabio Menéndez, Bernhard Glose. Foto: Franziska Götzen
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Das Mülheimer Theater an der Ruhr (TAR) steckt mitten in der ersten Theaterinsel. Das Konzept, statt eines Repertoire- oder Ensuite-Spielplans drei thematisch verbundene Themeninseln über die Spielzeit hinweg anzubieten, hat 2023/24 erstmals gut funktioniert – ging es letztes Jahr um den „Rausch“, so untersuchen die Künstler:innen in der aktuellen Spielzeit das „Geheimnis“. Um die Inszenierungen herum gruppieren sich Workshops, Diskussionen, Lesungen, Vorträge und Ausstellungen, die das Jahresmotto in den Fokus stellen.

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Geheimnis 1: Ödipus

Die erste Theaterinsel dieser Spielzeit, Geheimnis 1, setzt mit dem antiken „Ödipus“ des Sophokles den Ton: Ein analytisches Drama, in dem das verhängnisvolle Schicksal vom Ergebnis her aufgerollt wird und sich zeigt, dass alle Versuche, diesem Schicksal zu entgehen, geradewegs in die Katastrophe führen. Der Mensch als Marionette höherer Mächte?

Was ist der Mensch? Nur ein Spielball der Mächte? Paulina Alpen als Ödipus. Foto: Franziska Götzen

Kurze Synthesis

In Theben wütet die Pest. Das Orakel von Delphi gibt kund, dass der Mörder des Laios, König von Theben, gefunden und bestraft werden müsse. Ödipus, sein Nachfolger, verspricht, den Mörder zu suchen und zur Rechenschaft zu ziehen. Im Zuge der Ermittlungen kommt ans Licht, dass die grausige Prophezeiung sowohl an Laios als auch an Ödipus Wahrheit geworden ist: Ödipus ist der Sohn des Laios, hat diesen getötet und Laios Gattin Iokaste – seine Mutter – zur Frau genommen. Ödipus akzeptiert, unschuldig schuldig geworden zu sein und blendet sich, um alleine und hilflos Theben zu verlassen.

Open Air im Raffelbergpark

In TAR wird „Ödipus“ unter freiem Himmel gezeigt. Vor der traumhaften Kulisse des Theaters ist im Raffelbergpark eine abstrakte, blutrot eingerichtete Bühne aufgebaut, mit einem in den Himmel wachsenden Keil, der Auf-und Abtrittsmöglichkeiten schafft, und mit auf der Bühne drapierten Halbmasken mit weißblonden Perücken-Haar. Die Zuschauer:innen hören sphärische Klänge und Musik aus den Lautsprechern, auch Nachrichten zu der Voyager-Sonde von 1977, die auf einer Goldenen Schallplatte Informationen über uns Erdlinge ins All bringen sollte.

Am Anfang scheinen Aliens den Raffelbergpark heimzusuchen. Foto: Franziska Götzen

Die Geburt des Stoffs aus dem Geist der Maske

Aus dem Park nähern sich acht weißgewandete und geschminkte Gestalten, Aliens gleich, trippelnden Schrittes und mit roboterhaften Bewegungen. Gesichter sind nur angedeutet zu erkennen. Sie untersuchen neugierig die Bühne, entdecken die Masken, nähern sich ihnen – und ­ erstarren, atmen hörbar, fallen um, winden sich in wehenartigen Krämpfen und schreien. In den Masken scheint Grauenvolles zu stecken. Aber trotzdem siegt die Neugierde, vielleicht auch die Lust am Verhandeln eines Stoffes. Die sophokleischen Charaktere entstehen aus dem Geist der Maske.

Die Masken tragen den antiken Stoff in sich. Bernhard Glose, Steffen Reuber, Gabriella Weber (vorne). Foto: Franziska Götzen

Hervorragende, eindringliche Darstellung

Das tun sie in hervorragender Art und Weise. Obwohl durch die Maske die Mimik als eines der wichtigsten Mittel, Emotionen zu zeigen, weitestgehend ausfällt, schaffen es die Schauspieler:innen, das Drama des Schicksals eindringlich und authentisch erstehen zu lassen. Es entwickelt sich ein Sog, der Mücken, einen dunklen Himmel und kühle Temperaturen vergessen lässt – letzteres auch dank der ausgeteilten Decken und Kissen. Vor allem Paulina Alpen ist ein herausragender Ödipus, bestimmt und entschlossen am Anfang, im Laufe der Inszenierung verzweifelnd, schaudernd und zagend, um zum Schluss selbstbestimmt die Schuld anzunehmen und sich selbst zu bestrafen. Dass sie zum Schluss die Maske abnimmt, als könne sie die Geschichte nicht mehr aushalten, dann aber weiterhin „Ödipus“ ist, erscheint zwar als Bruch des Spiels im Spiel. Aber zum einen tut das der Intensität keinen Abbruch, zum anderen kann das auch als Hinweis auf das Allgemein-Menschliche der antiken Tragödie gesehen werden, die im Einzelschicksal Grundsätzliches verhandelt.

Auch der Seher Teiresias ist ein Erlebnis, wie er stottert, nicht aufdecken will, was er doch weiß und verkünden muss. Die beiden Rollen seien hier nur als Beispiele genannt für ein Ensemble, das in voller Breite überzeugt und das einen phänomenalen Abend gestaltet.

Wie geht man mit schuldloser Schuld um? Paulina Alpen, Dagmar Geppert. Foto: Franziska Götzen

Gelungene Figuren- und Lichtregie

Die spielfreudigen Künstler:innen werden von der stimmigen und exakten Lichtregie bestens unterstützt. Alles zusammen ergibt einen runden Theaterabend, den auch diejenigen genießen und verstehen können, die vorher weder den Stoff kannten noch eine der zahlreichen Rahmenveranstaltungen besucht haben.

Was besonders positiv auffällt: Ausnahmslos alle Darsteller:innen haben eine exzellente Sprachbehandlung und wären sicherlich auch ohne Mikroports glasklar zu verstehen gewesen.

Steffen Reuber als Seher Teiresias, der die Wahrheit ans Licht bringt. Foto: Franziska Götzen

Informationen und Kontakt

Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, Mülheim a. d. Ruhr
Geheimnis 1, 23.8. – 14.9.24

Ödipus, Sophokles / Roland Schimmelpfennig, mit Paulina Alpen, Albert Bork, Dagmar Geppert, Bernhard Glose, Fabio Menéndez, Lea Reihl, Steffen Reuber, Gabriella Weber. Regie, Konzept, Textfassung: Alexander Klessinger, Regie, Maskenspiel: Mats Süthoff, Bühne: Christopher Dippert, Kostüm & Maskenbau: Sophie Leypold, Musik/Komposition: Alexander Schweiß, Dramaturgie: Alexander Weinstock
Spieltermine noch am 6. & 7.9. und am 14.9.

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