Interview mit Alligatoah: Musik zwischen Schönheit und Ekel

Lucas Strobel steht als Schauspielrapper Alligatoah auf den Bühnen des Landes. Foto: dpa
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Lukas Strobel, besser bekannt als Schauspielrapper Alligatoah, liebt das Unerwartbare. Den Balanceakt zwischen Schönheit und Ekel. Im Interview mit Sandra Heick sprach er kurz vor Tourbeginn über Musik von Mainstream bis Musical.

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Alligatoah kennt die meisten Wege in seinem Kopf

Du liebst das Unerwartbare und Brüche in der Kunst. Was hat dich zuletzt im positivsten Sinne überrascht, Lukas?
Diese konkreten Fragen… Da muss man eigentlich für eine halbe Stunde weggehen und brainstormen… Ich habe jüngst eine Serie auf Netflix geguckt: „1988“. Die war definitiv überraschend! Davor habe ich meine frühere Lieblingsserie „Lost“ geguckt – und musste feststellen, dass mich Erzählweise und -struktur, die mich damals gefesselt haben, überhaupt nicht mehr kriegen. Es braucht jetzt ein bisschen mehr, um mich hinterm Ofen hervorzulocken.

Hast du mit Blick auf deine Kunst das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, den Überraschungsmoment zu finden, wenn man schon auf so viele Arten und Weisen überrascht hat?
Ja, das wird es. Mein Anspruch beim Schreiben von Liedern ist ja, dass ich zunächst einmal mich selber überrasche. Ich will vor dem Textblatt sitzen und einen Gedanken haben, den ich vorher noch nicht hatte – der mich so amüsiert, dass ich in einem Raum, in dem ich alleine bin, laut lachen muss. Dann weiß ich, dass ich etwas habe, was sich aufzuschreiben lohnt. Aber wenn du schon so viel aufgeschrieben hast in deinem Leben wie ich, dann wird es immer schwieriger, dich selbst zu überraschen – weil du die meisten Wege in deinem Kopf, wo du abbiegen kannst, schon kennst.

Es wird schwieriger – aber nicht unmöglich.
Mittlerweile überrasche ich mich einfach auf andere Art und Weise. Es sind nicht mehr dieselben Punchlines und Wortwitze, die mich amüsieren – oft sind es inzwischen eher Worte oder ungewohnte Kombinationen von Worten, die mich schmunzeln lassen. Das macht meine Texte ein bisschen reifer, würde ich sagen.

Die Masken sind durchlässiger geworden

Deine Masken sind auch durchlässiger geworden. Du zeigst von Album zu Album mehr von der Person hinter der Kunstfigur Alligatoah.
Ich würde das so unterschreiben, aber als ich vor Kurzem mal meine alten Songs wieder ausgepackt und mich durch meine Diskografie gehört habe, musste ich erschreckenderweise feststellen, dass immer schon ganz viel von mir in meiner Kunst drin war. Ich wusste es nur lange nicht – habe mir zumindest eingeredet, dass es nicht so ist. Zwischen den Zeilen meiner Songtexte steht aber viel. Ich war natürlich nie der Terrorist, den ich vor der Kamera gemimt habe – aber dass ich mir Rollen wie diese ausgesucht habe, allein das sagt ja schon viel aus.

Wie fanden deine Eltern denn, dass du mit Sturmhaube vor der Kamera standest? Haben sie als Künstler das verstanden?
Anfangs habe ich das Musikmachen verheimlicht – habe meine Musikvideos einfach nur für mich gemacht und auch meinen Freunden nichts erzählt. Sie nur mit dem Internet geteilt und die Anonymität genossen. Sie gab mir die Möglichkeit, mich komplett neu zu erfinden, ohne dass irgendeine Erwartung auf mir liegt.

Aber irgendwann war das Ganze kein Geheimnis mehr …
Irgendwann gab es einen Anruf bei meinen Eltern. Ich hatte meinen Counter-Strike-Song auf myvideo.de hochgeladen und im Hintergrund saßen erwachsene Leute, die sich dort Nachwuchsmusikvideos angeguckt haben. Sie haben diesen verrückten Typen mit Sturmhaube gesehen, der von Amokläufen erzählt, und den nächsten Schulamoklauf vor sich gesehen. So kam das Ganze zur Sprache. Meine Eltern hat das Ganze allerdings wenig beeindruckt. Sie haben das Gespräch mit mir gesucht, aber nachdem ich ihnen alles erklärt hatte, hatten die als Künstler, die sie nun eben sind, großes Verständnis. Sie haben mich immer unterstützt.

Und deine Freunde – wie sind die auf deine Kunst aufmerksam geworden?
Irgendwann hingen auf dem Schulhof plötzlich Sticker von mir rum, die es zu meiner ersten CD gab – und ich musste mich dazu positionieren. Als mich zum ersten Mal ein Freund fragte, ob ich der Typ mit der Maske sei, wusste ich: Ich will meine Freunde nicht anlügen. Als ich dann mit der Wahrheit rausrückte, merkte ich schnell, dass meine Sorgen unberechtigt waren. Man fand cool, was ich mache, auch wenn’s nischig war – auf einem Dorfgymnasium, wo Rap eigentlich total verpönt war. Trotzdessen hatte ich mich halt in diese Musikrichtung verknallt.

Alligatoah geht nachhaltig mit Papier um

Du bist dem Sprechgesang treu geblieben – und stehst für extrem ausgefeilte Texte. Könntest du einen Song an zwei, drei Tagen schreiben? Oder braucht es auf jeden Fall Jahre, bis du zufrieden mit etwas sein kannst?
Das ist die Frage der Fragen. Ein ewiger Kampf. Natürlich wünsche ich mir, auch mal schneller mit Songs fertig zu werden – aber da sind immer wieder Wochen, in denen ich keine einzige Zeile aufs Blatt bekomme. Meine Kreativität in Bahnen zu lenken, die produktiv sind, ist ein lebenslanges Arbeiten – und ich muss immer wieder durch Täler gehen. Durch Momente, in denen ich prokrastiniere und nicht weiterkomme. Aber am Ende lohnt sich der Weg immer.

Zerknüllst du zwischendrin mal Zettel mit Notizen und holst sie später wieder aus dem Mülleimer hervor?
Das kommt nicht vor, weil ich nur Dinge aufschreibe, über die ich schon mindestens 24 Stunden nachgedacht habe – etwas übertrieben formuliert. Es gibt Künstler, die schreiben ohne Ende und wählen dann das Beste aus; ich hingegen schreibe nichts auf, von dem ich nicht denke, dass ich es verwenden werde. Ich gehe sehr nachhaltig und respektvoll mit Papier um.

Alligatoahs Kunst entsteht im isolierten Raum. Foto: Arida Flack

Muss man dir das Papier irgendwann aus den Händen reißen, weil du nicht loslassen kannst?
Ich muss es mir selber aus den Händen reißen, weil da niemand anderes ist. Ich bin vom ersten bis zum letzten Satz komplett auf mich gestellt, muss Anfang und Ende allein finden – weil ich es so will. Ich bin der Zeigefinger, der mich ermahnt ebenso wie die lobende Stimme.

Du arbeitest wirklich komplett im isolierten Raum? Ohne Rückmeldungen von anderen einzufordern?
Ich muss den Prozess im isolierten Raum halten, weil ich, wie wohl die meisten, eine beeinflussbare Person bin. Sobald ich jemandem etwas vorspiele, bin ich der Reaktion ausgesetzt, und die macht was mit mir. Davor will ich mein Werk schützen, solange es noch nicht laufen kann. Es muss stabil sein, bevor ich es kritischen Blicken aussetze und der Gefahr, dass es von meiner eigenen Beeinflussbarkeit korrumpiert wird.

Du spielst ja auch die Instrumente selbst, die auf deinen Platten zu hören sind – spielst zum Beispiel die Geige ein, ohne Geige spielen zu können. Drei Töne, Pause, wieder drei Töne. Wäre es sonst nicht deine Kunst?
Wenn es sich nicht anfühlt wie etwas, das ich alleine gemacht habe, macht es für mich in der Tat wenig Sinn, da meinen Namen drunter zu schreiben und zu sagen: Hier ist mein Werk.
Und ich habe auch einfach Spaß daran, alles selber einzuspielen. In meinem Leben gibt es so viel, das ich teile, und ich bin auch ein sehr kompromissbereiter Mensch. Musik ist der einzige Bereich, in dem ich Diktator bin – alleine entscheiden kann. Es ist mein Safe Space, und den brauche ich, weil ich sonst nirgendwo einen habe. Deswegen werde ich ihn immer verteidigen.

Balanceakt zwischen Schönheit und Ekel

Du schaffst es in deinen Songs, selbst die kitschigsten Gedanken in alles andere als banale Worte zu packen. Wie schmal ist der Grat zwischen zu viel, zu wenig, zu hart, zu weich …?
Es ist immer ein Balance-Akt. Ich habe in meinem Herzen eine große Liebe für Kitsch und Pop und Schnulzigkeit – mir geht das Herz auf, wenn irgendwas Romantisches passiert. Aber auf der anderen Seite widert es mich auch an. Dann will ich gegensteuern, weil die andere Seite meines Herzens das Düstere, das Dreckige und das Verruchte liebt. Das macht Alligatoah-Songs aus: Dass ich immer zwischen Schönheit und Ekel hin- und herbalanciere.

Ist Mainstream ein Schreckgespenst für dich?
Ich würde Mainstream nicht als Feindbegriff sehen, auch wenn ich damit aufgewachsen bin, dass es der Feind ist. Mainstream kann schon auch geil sein – und ich bin dort angekommen. Glücklicherweise musste ich mich nicht glatt ziehen, sondern bin auf natürliche Weise in die Situation geraten, dass mir viele Leute zuhören. Da steckt Magie hinter, denke ich manchmal. Oder einfach Glück

Und man hört dir sehr intensiv zu: Viele deiner Texte werden akribisch analysiert.
Ich muss ein bisschen aufpassen, dass es nicht zu sehr Deutschunterricht-Musik wird. Unter meinen Videos steht manchmal, dass Songs von mir in der Schule analysiert werden – und Songs vom Lehrplan mag man doch aus Prinzip nicht. Deswegen pack ich vielleicht auch immer ein bisschen Edginess in die Songs.

Du schlüpfst als Schauspielrapper in verschiedenste Rollen. Denkst du, dass es der Menschheit gut tun würde, wenn jeder öfter mal aus anderen Perspektiven auf die Welt schaut?
Auf jeden Fall. Ich lade die Leute ein, die Perspektive zu wechseln, weil es in verhärteten Streitgesprächen das ist, was einen dem anderen näherbringt. Ich finde auch Fernsehformate schön, in denen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammengesetzt werden, die sich dann auf einer menschlichen Ebene kennenlernen – und womöglich merken, dass sie gar nicht so unterschiedlich sind. Die es schaffen, die Perspektive des anderen einzunehmen, ihn zu verstehen – ohne ihre eigene Sichtweise aufgeben zu müssen.

„Die Position in der Mitte entspricht nun einmal meinem Wesen“

Wie diskutierst du?
Wenn ich in eine Diskussion gerate, bin ich oft derjenige, der sich irgendwo in der Mitte ansiedelt – der gerade bei zwei streitenden Parteien eine moderierende Rolle annimmt und den roten Faden hochhält. Was mancher nicht versteht: Die Position in der Mitte einzunehmen, Grautöne zu sehen und nicht auf ein Extrem zu springen, ist nicht immer der leichte Weg. Oft wird man verwechselt mit jemandem, der sich nicht positionieren will, weil ihm das unangenehm wäre. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich finde es uncool, wenn Leute aus Angst vor Anfeindungen nicht gewillt sind, Farbe zu bekennen. Man sollte zu seiner Meinung und zu seinem Wesen stehen – und meinem Wesen entspricht es eben, viele Seiten sehen zu können.

Alligatoah sieht viele Grautöne. Foto: Janine Kühn

Ins Extreme zu gehen wäre in meinem Fall unglaubwürdig – aber oft sind Leute auf diese Verweigerung allergisch. Sie wollen, dass du A oder B sagst, dass du dich eindeutig positionierst – sonst bist du am Ende auf keiner Seite willkommen. Man hat das Gefühl von Heimatlosigkeit und fühlt sich von allen Seiten verachtet. Aber die Position in der Mitte entspricht nun einmal meinem Wesen und ist das Authentischste, was ich tun kann und bin.

Du hast mal gesagt, dass Kunst keine Wohlfühlzone sein darf, sondern auch mal kitzeln muss – aber nicht grundlos. Warum ist dieses Kitzeln so wichtig?
Naja, muss … Ich will keine Regeln für Kunst generell formulieren. Für mich persönlich ist das Spannende an der Kunst, dass sie mich rausholt aus normalen Denkmustern – und da bin ich nicht alleine. Warum investieren Menschen Geld in Musik & Co.? Wohl auch, weil sie Kind bleiben und Zugänge zu wilden, absurden Gedankenmustern behalten wollen, die im Job-Hamsterrad inmitten von Routinen verloren zu gehen scheinen. Da kommen wir Künstler ins Spiel. Da können wir kitzeln und Festgefahrenes lockert sich.

Letzte Frage: Wann kommt endlich „Alligatoah – das Musical“ raus?
Berechtigte Frage – die Idee ist mir immer schon sehr, sehr nah. Ich bin Musical-Fan, ich bin Bollywood-Fan, ich mag den Musik-Film, wo die Handlung durch Songs unterbrochen wird. Einmal mehr großer Kitsch, den ich sehr gut finde. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass es dieses Musical irgendwann geben wird. Ich wäre dabei.

Mehr zu Alligatoah auf alligatoah.de, Facebook: Alligatoah, Instagram: alligatoahinfarbe
Nächste NRW-Termine: 18.11. Westfalenhalle Dortmund, 20.11. Lanxess Arena Köln

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