Genregrenzen? Keine: Kevin von Electric Callboy im Interview

Electric Callboy entwickeln sich zu einem der größten internationalen Acts, die NRW je hatte. Wir sprachen mit Frontmann Kevin (4.v.l.) Foto: Pressefoto/Sony Music
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Von Castrop-Rauxel in die weite Welt: Electric Callboy erobern gerade mehrere Kontinente. Christopher Filipecki sprach mit Frontmann Kevin über das neue Album „Tekkno“.

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Electric Callboy in 2022: Das war los!

Wo seid ihr gerade, Kevin? Im Ruhrgebiet haltet ihr euch ja eher selten auf…

Genau! Wir haben Deutschland sogar verlassen und sind nun in der Schweiz auf dem Gränichen Open Air. Das ist im Vergleich zu den letzten Wochen auch entspannter. Wir mussten zuletzt zu vielen Festivals fliegen, sind nun aber fit und ausgeruht schon mittags mit dem Nightliner angekommen. Heute gibt’s Show, morgen geht’s wieder zurück zu unseren Familien.

Richtig Luxusprogramm also?

Ja wirklich! Der Bus ist auch total gut ausgestattet. Ich sitze gerade unten, oben haben wir eine Lounge, in der alle abhängen. Wir haben vorhin noch einen Film geschaut und Fifa gespielt, da kann man sich nicht beschweren tatsächlich.

Beschreibe euer bisheriges ’22 in einem Stichwort!

Atemberaubend. In vielerlei Hinsicht. Ein Jahr der Superlative nach zwei Jahren mit kaum einem Liveauftritt. Dabei waren wir aber in den zwei Jahren trotzdem sehr tüchtig. Viele haben mich immer gefragt, was ich überhaupt in der Pandemie mache – ich hatte aber mehr zu tun als jemals zuvor, weil sich alles verschoben hat. Man hat zwar keine Shows gespielt, war aber dafür geschäftlich im Studio und hat Content erstellt, Kooperationen oder Aktionen für den Social-Media-Bereich. Da ist so ein Jahr wie dieses nun krass. Man muss sich ab und zu mal hinsetzen und die Dinge aktiv wahrnehmen, damit nicht alles an einem vorbeirauscht.

Ihr wart in den letzten Wochen in zig Ländern, dabei kommt nun euer neues Album raus. Nehmt ihr den Release überhaupt wahr oder passiert der ganz beiläufig?

Wir haben das Album fertig gestellt, auch alles, was damit zu tun hat, wie Artwork oder Merchandise – dann legt man es auch erstmal zur Seite. Man hat so lange damit zu tun, dass man irgendwann ein bisschen Abstand davon braucht. Die Shows waren da sehr willkommen. Jetzt gerade kommt es aber langsam wieder und wir freuen uns darauf. Interviews, Releaseparty, Musikvideos für noch ausstehende Singles bringen einen wieder in Kontakt. Die Zeit muss man sich nehmen, sonst wäre es zu schade bei dem Aufwand.

Electric Callboy gibt es seit 2010. Seitdem ging es ausnahmslos nur bergauf. Foto: Presse/Sony Music

Neuer Sänger, neuer Bandname und der Eurovision Song Contest

Es gab ein paar einschlägige Ereignisse, lass uns die mal anschauen: Ihr habt seit zwei Jahren einen neuen Sänger, Nico. Habt ihr beim Songwriting neue Impulse bemerkt?

Voll. Ein Grund, warum wir uns auch von unserem alten Sänger getrennt haben. Am Ende waren es Fünf gegen Eins. Unsere Musik ist relativ vielfältig, die vielen Einflüsse machen es aus, was uns aber irgendwie zum Verhängnis wurde. Die Kompromisse wurden immer größer, keiner hatte mehr so Bock, der Spaß wurde weniger. Wir hatten eine Art Casting für die Band.

Nico war bei uns, da wir uns schon vorher kannten, und sagte, dass er es sich auch zutraut. Auf einmal war die Beschwingtheit zurück, die damals Auslöser war, überhaupt Musik zu machen. Auch, dass man sich gegenseitig begünstigt. Nico ist ein brillanter Sänger, sodass wir neue Möglichkeiten im Songwriting haben, aber durch unseren persönlichen, passenden Vibe, entstehen auch tolle Ideen. Es macht endlich wieder Spaß, auch wenn Nico zeitlich mit der Pandemie nicht den besten Start hatte. Dafür gab es andere Ventile, sodass wir trotzdem was machen konnten. Nun kommt die Musik aber endlich mit ihm auf die Bühne.

Zusätzlich hattet ihr auch eine Namensänderung im Frühjahr. Aus Eskimo Callboy wurde Electric Callboy. War das eine einfache Sache? An einem Namen hängen Emotionen, oder?

Man muss das ganz klar in zwei Bereiche trennen. Das Thema begleitet uns schon seit Jahren, sodass wir wirklich sehr viel darüber nachdenken konnten, nicht einfach impulsiv gehandelt haben. Wir haben mit den unterschiedlichsten Menschen gesprochen, wie einem Professor im Bereich Arctic Studies, mit einer Eishockeymannschaft, die sich aus ähnlichen Gründen umbenannt hat, mit Bevölkerungsgruppen. Uns war das Ausmaß zunächst gar nicht bewusst. In unseren Breitengraden ist der Name nicht so problematisch, sondern eher romantisiert definiert mit einem Menschen, der neben seinem Iglo im Eis sitzt. Die negativen Verbindungen hatten wir gar nicht im Kopf.

Durch unsere gestiegene Bekanntheit wurde es dann aber zu einem Problem, als Leute von uns gehört haben, für die der Bandname äußerst negativ klang. Dann haben wir angefangen, uns intensiv damit zu befassen. Selbstverständlich tut es auch weh, man wird nostalgisch, weil man sich mit dem Namen identifiziert und sagt: „Das sind doch wir!“. Schaut man aber auf die Wirtschaftlichkeit, ist das eigentliche Problem ein anderes. Durch eine Umbenennung findet man uns vielleicht gar nicht mehr, altes Merch muss weg, die Homepage erneuert werden. Das, was aber im ersten Augenblick schwerwiegender wirkte, nämlich das Emotionale, war plötzlich ganz schnell abgehakt.

Nachdem wir uns mit Menschen unterhielten, die wirklich Ahnung haben, war uns klar, dass „Eskimo“ ein Name ist, der einer Personengruppe von anderen Menschen zugeordnet wurde, die auf sie herabschauen. Das war das letzte eindeutige Signal für uns. Wir wollten auch, dass die Fans die Umbenennung verstehen, weswegen wir dazu Videos gemacht haben. Ganz am Ende war allen klar, dass ein Name doch Schall und Rauch ist. Wir als Personen zählen und werden nun auch bei kanadischen Festivals gebucht, die uns vorher wegen des Namens abgelehnt haben. Wir wollen verbinden, nicht spalten.

Weiteres großes Ding: Ihr habt euch für den deutschen Beitrag zum Eurovision Song Contest 2022 beworben, seid aber trotz riesiger Medienechos und Petitionen nicht in die Endrunde gekommen. Wie kam es zu der Idee, wie war das Erlebnis für euch?

Vorweg: Wir bewerben uns auf gar keinen Fall erneut. Es war einfach eine Schnapsidee. Eine von diesen Ideen, die du in einem Moment hast, und dann direkt tun oder für immer lassen musst. Einer hat unter unserem Video geschrieben, dass der Song doch mal genau das Richtige für den ESC wäre, sodass Deutschland wieder gute Chancen hätte. Fanden wir witzig. Aus den unterschiedlichsten Ecken kamen plötzlich Leute auf uns zu, die meinten, wir könnten das doch mal machen. Haben wir auch, aber alles, was dann folgte, war insgesamt eher lästig für uns.

Es hat uns viel Aufmerksamkeit eingebracht, ganz klar. Wir wurden zu einer Preselection eingeladen und alle waren begeistert. Allerdings war die öffentliche Wahrnehmung: „Geil, die fahren zum ESC!“ und alle anderen Teilnehmer wurden einfach ignoriert. Als wir die Absage bekommen haben, war natürlich die Entrüstung krass. Jedoch kam dann die Petition, die von so vielen Menschen unterschrieben wurde, die nicht alle Electric-Callboy-Fans sind, sondern einfach das Auswahlsystem der letzten Jahre unfair fanden und den NDR damit kritisieren wollten.

Wir fanden es für die anderen Teilnehmer dann auch sehr schade, dass unter jedem Video nur wieder wir ins Thema gerückt wurden. Das tat uns total leid. Vielleicht wäre eine Preselection, bei der die Zuschauer sehen, wer sich alles bewirbt, auch mal eine viel coolere Sache für den Vorentscheid. Am Ende war’s eine tolle Reise, nice to have, wir machen jetzt aber unseren Kram weiter.

Kevin über das neue Electric Callboy-Album „Tekkno“

Sprung in die Gegenwart: Euer neues Album heißt „Tekkno“. Geht ihr etwa am liebsten zu Electro clubben?

Wir haben so viele unterschiedliche Einflüsse. Damit hatten wir anfangs einen ziemlich schwierigen Start. Vor zehn Jahren fanden Menschen das noch ganz blöd, weil man Musik als Identifikation nutzt. Jeder hat quasi sein Genre. Das klappt heute aber immer besser. Menschen werden generell immer offener, und wir finden eben, dass Metalcore und harte Gitarrenmusik mit elektronischer Technomucke super zusammenpassen. Unser Beweis dafür ist auch, dass wir der erste und einzige Metalact auf einem der größten Elektromusikfestival waren, dem Parookaville. Die Leute auf Festivals wissen es immer mehr zu schätzen, Neues zu entdecken.

Ein Spotify-Phänomen? Jeder hat auf alles Zugriff und kann überall reinhören?

Absolut. Fluch und Segen zugleich. Die Pandemie funktioniert da wie ein Katalysator. Menschen saßen mehr zuhause und konnten noch mehr konsumieren. Und vieles hat auch mit Gewohnheit zu tun. Wenn man’s 1000mal hört, gefällt es einem irgendwann. Natürlich tut Spotify unserer Geldbörse nicht gut, aber spielt uns durch mehr Bekanntheit dann anderweitig in die Karten.

Passend dazu habt ihr auf der Platte ein Feature mit FiNCH.

Genau. Auch ein Rapper, der aus seinem Genre ausreißt, den wir deswegen auch immer feiern. Die Hardcore-Rap-Fans können mit ihm ja gar nicht mehr so viel anfangen. Wir wollten gern ein Deutsch-Rap-Feature, haben in unserer näheren Umgebung geschaut und sind über Kontakte zu Finch gekommen. Wir haben’s aktiviert, er hat es abgefeiert, wir haben uns in Berlin getroffen und so kam der Song zustande. Bisher hat der Song auch in jedem Land funktioniert, in dem wir ihn gespielt haben. Richtig geil.

Electric Callboy x FiNCH x Conquer Divide

Und noch ein weiteres Feature bei Electric Callboy: Conquer Divide. Eine Hardcore-Girlband aus den USA. Ein Zeichen dafür, dass die früheren Sexismus-Vorwürfe unangebracht sind?

Uns ist erst nachträglich aufgefallen, wie gut das passt. Der Song heißt „Fuckboi“, der Aufbau des Songs und auch das Video passen perfekt. Konzeptionell überlegt haben wir uns das aber nicht. Man hätte uns bestimmt nach der Umbenennung dann auch vorgeworfen, dass wir jetzt absichtlich noch ein Frauenfeature dazu holen. Überhaupt nicht. Die Band war schon als Vorband für die USA-Tour geplant.

Als wir bei der Finalisierung des Pop-Punk-Songs waren, hatten wir die Band eh schon längst im Kopf, kannten die Stimme von Frontfrau Kia und fanden diese Gegenüberstellung in dem Song einfach richtig stimmig. In dem Song geht’s um unterschiedliche Wahrnehmungen. Dieses Battle wird auch im Video sehr geil umgesetzt. Während des Drehs haben wir uns auch über die Sexismus-Debatte mit der Band unterhalten, da eine Mädelsband, die Metal macht, auch immer mit Vorurteilen überhäuft wird. Vor Ort waren die aber einfach nur wow. Wir waren voll geflasht, wie geil die abgehen und freuen uns mit denen auf Tour zu gehen.

Gibt es sonst noch Songs mit besonderer Geschichte?

Am Anfang schreibst du einfach drauf los. Alle Ideen sprudeln aus einem heraus. Die Kreativität darf nicht gestoppt werden. Wenn’s leicht geht, schreibst du den Song fertig. Das war zum Beispiel bei „Spaceman“. Bei manchen Songs stockst du aber und musst erst durch einen Sumpf waten und es klappt nicht direkt. Je mehr man probiert, desto schwieriger wird es. Manches legen wir zur Seite, nehmen es sechs Monate später wieder in die Hand.

„Tekkno Train“ haben wir am Anfang schon super gefeiert, der war einer der ersten Songs. Die zündende Idee kam aber erst ganz am Ende. Da war alles dabei von „Den werfen wir über Bord“ bis hin zu „Der muss unbedingt mit“. „Tekkno“ als Gesamtkunstwerk gefällt mir deswegen so gut, weil es so unterschiedlich geartete Songs wurden. Ein paar harte, seriösere Sachen mit Schwere, aber auch spaßige Nummern.

Sogar in den Singlecharts seid ihr nun vertreten. Erstrebenswert, auch im Mainstream wahrgenommen zu werden, oder nur netter By-Effect?

Zu meiner rebellischen Zeit, als ich angefangen habe, Musik zu machen, hätte ich dir gesagt, das ist mir scheißegal. Aber wenn man mit der Musik groß wird, merkt man irgendwann, dass die Musik zwar wahrgenommen wird und man auch positives Feedback bekommt, aber sie wird nicht richtig wertgeschätzt. Leute brauchen Zahlen, um ablesen zu können, dass etwas gut ist. Auch Eltern oder Familien können erst damit etwas anfangen, wenn man sagen kann, dass man Platz 8 in den Albumcharts geschafft hat. Die Kohle tut für mich nichts zur Sache. Es ist mehr eine kleine Auszeichnung für jahrelange Arbeit. Das hinzukriegen, ist geil.

Szene aus dem Musikvideo „Spaceman“. Ein Song, den Electric Callboy mit FiNCH aufgenommen haben. Foto: Presse/Sony Music

Machen Electric Callboy nun auch noch Schlager?

„Hurrikan“ ist ein sehr auffälliger Song auf der Platte. Da könnte man erst denken, es wäre eine Fehlpressung. Wie wichtig ist euch Ironie und Humor?

Jede Band kann das natürlich für sich entscheiden. Für uns ist Musik aber immer auch Kunst. Kunst sollte nie limitiert werden. Humor ist ein Stilmittel, das wir mitnehmen wollen. Wir mögen das Komplettpaket. Wenn die Leute sich zur Musik bewegen und gleichzeitig über unseren Social-Media-Content lachen, ist das genau das, was es für uns perfekt macht. Natürlich ist „Hurrikan“ kein vollwertiger Song, der für Electric Callboy steht, aber er zeigt, dass wir einen an der Mappe haben. Und das macht es funny. Ich find’s toll, wenn so ein Song einen mal kurz herausreißt und man danach denkt: „Ach, das war ja irgendwie witzig“.

Im September spielt ihr in UK und Frankreich, im November sogar mit der Band Attack Attack in den USA, die früher für euch Inspiration waren. Angst, Respekt, pure Vorfreude?

Früher haben wir Attack Attack als Einfluss genannt, richtig. Mittlerweile sind wir gewachsen und erwachsener geworden und machen mehr unseren eigenen Stil. Trotzdem sind sie weiterhin ein Grund dafür, dass wir die Musik machen, die wir machen – auf jeden Fall. Ich find’s generell aber immer geil in anderen Ländern zu spielen. In den Staaten waren wir auch schon mal. Eine gemischte Tour, bei der wir der einzige Metalact waren. Das Publikum ist super wild, die wissen auch oft andere Mucke zu schätzen. Deswegen ist es bei uns nur Vorfreude.

Amerika ist riesig, du kannst in jedem Staat was anderes erleben. Und genau das – klingt jetzt wie ein alter Hase – macht einen unglaublich reich. Es ist nicht mehr alles neu, aber immer wieder schön. Ende des Jahres sind wir noch in Australien, da waren wir noch gar nicht. Respekt haben wir aber vor dem Unterwegssein. Große Reisen, lange Fahrten. Ansonsten gilt: Kleine Schritte, kleine Ziele, um einen Fortschritt zu verspüren. Auch mal kurz stehenbleiben und schauen, welchen Weg man bereits hinter sich gebracht hat. Öfter auch mal mit dem zufrieden sein, was man schon hat. Und wir können’s oft gar nicht fassen, was wir haben. Deswegen immer ein fettes Danke, dass Leute da draußen uns abfeiern. Egal, ob als Kommentar unter den Videos, auf Hochzeiten oder in Clubs in Japan. Dass die Kunst, die in unseren Köpfen in Castrop-Rauxel entsteht, in der ganzen Welt wahrgenommen wird, ist Wahnsinn.

electriccallboy.com
Das neue Album „Tekkno“ erscheint am 16.9.
Nächster geplanter Termin in NRW: 3.3.23, Lanxess Arena Köln

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