Joja Wendt: Im Gespräch mit Deutschlands Klavierflüsterer

Joja Wendt: Virtuose am Klavier, cooler Dude im Gespräch. Foto: Alex Mayschak
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Er spielt seit seinem vierten Lebensjahr Klavier, wurde als Pianist von Joe Cocker entdeckt und hat Musik für große, deutsche Filmproduktionen komponiert: Joja Wendt ist zweifelsohne einer der wichtigsten deutschen Musiker:innen und auch über die Landesgrenzen hinaus als Star-Pianist bekannt und verehrt. Zur Ruhe kommt der 60-jährige trotzdem nicht. Seine aktuelle Tournee bringt ihn am 17.10. unter anderem ins Konzerthaus Dortmund. Wie Joja Wendt den Alltagstrubel meistert, was hinter seinem ungewöhnlichen Tourneenamen steckt und vieles mehr hat uns der große Pianist ganz persönlich im Interview erzählt.

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„Ich fühle mich auch in der Pflicht, die Leute gut zu unterhalten.“

Ihr Tourneename lautet „Spiel doch mal leiser!“. Was steckt denn hinter dem Titel?

„Spiel doch mal leiser!“ ist eigentlich ein Satz, der sich wie ein roter Faden durch meine Karriere und durch mein Klavierspiel zieht. Ich bin eins von neun Kindern. Ich habe acht Geschwister und immer, wenn die Hausaufgaben gemacht haben und ich geübt habe, riefen sie „Spiel doch mal leiser!“. Es ist gut, dass ich darauf nicht gehört habe. Meine Mutter hat immer gesagt, wenn du das Klavier als Beruf wählst, dann musst du zusehen, dass du das, was du machst, auch wirklich klar an den Zuhörer adressierst. Nicht im Hintergrund in der Hotelhalle oder nebenbei bei Hochzeiten und Geburtstagen klimpern. Spiel doch mal leiser? Meine Mutter hat mir gesagt, mach es lieber nicht. Sieh zu, dass du gehört wirst. Und dass das, was du machst, auch wirklich den Zuhörer erreicht.

Was genießen Sie ganz besonders bei Ihren Live-Auftritten? Ich habe gelesen, dass Sie rund einhundert Live-Auftritte in einem Jahr haben.

Ich habe früher super viel gespielt. Da war ich also dauernd unterwegs. Man lernt auch eine Menge über die verschiedensten Auftrittsumgebungen und mit verschiedenen Voraussetzungen umzugehen. Mein Konzertflügel geht auch mit mir auf Reisen. Das empfinde ich als sehr großes Privileg. Aber als ich das damals noch nicht hatte und dann immer mit den Flügeln zurechtkommen musste, die vor Ort standen, war das zum Teil wirklich sperrig. Man hat eine Beziehung zu dem Instrument. Heute sperrt es ich und dann spielt es plötzlich wie von selbst. Ich habe mich schließlich entschieden, ich nehme den wirtschaftlichen und den logistischen Kraftakt auf mich und nehme immer meinen eigenen Flügel mit. Und wenn man wirklich viel spielt, hilft das auch, dass man Routine bekommt.

Ein bisschen Disziplin gehört auch dazu, zum Beispiel, keinen Alkohol zu trinken. Nach dem Konzert nichts mehr zu essen. Ich merkte, dass ich sonst am nächsten Tag in der zweiten Hälfte des Konzerts plötzlich so müde wurde. Ich trinke immer nur Tee und dann gehe ich ins Bett. Wenn du jeden Tag spielst, musst du sehen, dass du vor allem gut schläfst. Und du schläfst einfach nur gut, wenn du keinen Alkohol getrunken hast. Man denkt immer, ein Bierchen ist okay. Wenn man am nächsten Tag nichts Großes tun muss, ist es auch okay. Aber wenn du am nächsten Tag voll konzentriert an den Flügel musst, musst du sehen, dass du in Form bleibst. Nicht nur spielerisch, sondern auch körperlich. Das habe ich im Laufe meines Lebens gemerkt.

Wenn du viel spielst, merkst du, dass jeder Abend anders ist. Jedes Publikum ist anders. Jeder Konzertsaal ist anders. Zwischen 30 und 40 baute ich eine Karriere auf. Da spielte ich sehr viel. Es blieb nicht nur bei Konzerten. Du musst PR-Termine wahrnehmen. Dann bist du noch auf Galas gebucht. Das war „bread and butter“ für mich. Ich war das einzige von neun Kindern, das meinem Vater nicht auf der Tasche lag. Das war sehr komfortabel, weil ich mir nicht reinquatschen lassen musste – eine Form von Freiheit.

Auf diesen 100 Konzerten lernt man immer wieder mit neuem Publikum umzugehen. Ein Konzert zu geben ist großartig. Man darf nicht vergessen: Die Leute, die da hinkommen, die haben einen Abend geopfert. Die wollen auch den Benefit genießen. Ich fühle mich auch in der Pflicht, die Leute gut zu unterhalten. Auch hochklassig. Das ist mein Anspruch. Das funktioniert in 95 Prozent der Fällen auch ganz gut. Wenn man die Erfahrung mitbringt.

Ein Mann, der genauso leidenschaftlich erzählt, wie er spielt. Foto: Alex Mayschak

Hat sich Ihr Publikum im Laufe der Jahre verändert?

Ich habe gerade neulich mit dem Geschäftsführer von CTS gesprochen und mal nach meinem Durchschnittspublikum gefragt, ob mehr Frauen, mehr Männer und so weiter. Er hat mir dann eigentlich nichts Neues erzählt. Ich wusste, dass bei mir das Durchschnittsalter ungefähr 50 Jahre ist. Einige Familien ziehen dann den Schnitt mit ihren Kindern ziemlich nach unten, aber im Grunde genommen sind das die Leute, die ins Konzert gehen. Das ist ein sehr treues, sehr unaufgeregtes Middle-of-the-road-Publikum in der Mitte der Gesellschaft. Leute, die nicht nur Klavier spielen, sondern das kann genauso der Hochschulprofessor sein wie der Klempner von nebenan. Die fühlen sich bei mir ganz gut unterhalten und auch ganz gut aufgehoben. Das ist vielleicht auch mein Erfolgsgeheimnis, dass ich nicht versuche, aus dem elitären Elfenbeinturm heraus große Kunst zu verkaufen, sondern dass ich die Leute auf Augenhöhe abhole. Ich versuche das, was ich mache, auch plastisch zu erzählen. Während ich spiele, haben sie die Bilder dazu im Kopf und haben dann einen viel besseren Zugang dazu. Meine Konzerte sind interaktiv, sodass die Leute mitmachen können. Ich habe die Verantwortung, die Leute gut zu unterhalten – und zwar jeden.

Wenig überraschend kaufen mehr Frauen als Männer Tickets. Das ist generell so, weil die Frauen in der Familie die Motoren eines eher kulturell angehauchten Events sind, weil sie sagen: „Pass mal auf, du sitzt hier die ganze Zeit vorm Fernseher. Ich habe dir mal Tickets gekauft!“ (lacht) Es ist ganz spannend zu sehen, wer das Zielpublikum ist. Ich habe mir da strategisch nie so richtig Gedanken darüber gemacht. Sollte man vielleicht als junger Künstler heute eher machen. Wen erreiche ich auf TikTok, wen erreiche ich auf Instagram? Am Ende geht es nur darum, mit Herzblut aufzutreten, das überträgt sich dann auch auf die Leute. Musik ist ein wahnsinnig toller Transporteur von Emotionen.

„Das Klavier war mein Instrument – es bietet so wahnsinnig viel.“

Das Klavier begleitet Sie seit Ihrer Kindheit. Warum ist es das Klavier geblieben? Es war anscheinend eine große erste Liebe, die sich bis heute durchzieht.

Erstmal hilft es, sehr früh mit etwas anzufangen. Das sind die Phasen, in denen man die Synapsenbahnen ausbildet. Meine Mutter hat gesagt, ich hätte so eine natürliche Art von Technik als Vierjähriger gehabt. Meine ältere Schwester spielte Klavier, daher hatten wir ein Klavier zu Hause. Was ich da tat, klang noch nach nichts, es war nur ein wenig Gepatsche von Kinderhänden. Aber ich hatte sozusagen schon mal so ein Gefühl dafür, was passiert, wenn man auf die Tasten drückt.

Wir haben uns als Kinder auch immer Geschichten erzählt. Als kleines Kind habe ich gemerkt, dass du so eine Geschichte schon wahnsinnig mit Sounds aufladen kannst [Anm.: Spielt eine schaurige Melodie am Flügel]. Ich habe ganz viel selbst rumexperimentiert am Klavier. Je mehr du Klavier spielst, desto fokussierter bist du. Es scheint ein Synapsengewitter auszulösen im Gehirn, was einen auch für andere Dinge im Transfer-Bereich zugänglicher macht. Alles, was du selber für dich entdeckst, ohne, dass dir das jemand anders sagt, brennt sich noch anders in die Nerven ein, als das, was man dir beibringt. Das Klavier war mein Instrument – es bietet so wahnsinnig viel. Du kannst eine Melodie spielen, du kannst Harmonien spielen, den Bass. Es ist sehr perkussiv –  das ist mein Instrument.

Ein Joja Wendt sitzt nicht neben einem Flügel, ohne zu spielen. Foto: Alex Mayschak

Welche Stücke performen Sie denn auf der Bühne ganz besonders gerne? Gibt es da Evergreens?

Es gibt so ein paar Klassiker, die eigentlich immer im Programm waren, weil sie auf der einen Seite so virtuos und auf der anderen Seite irgendwie cool sind und die Leute sie feiern. Es gibt zum Beispiel einen Titel, den haben wir auf dem Wacken Open Air gespielt. Das ist die Cantos de España. Das setzt richtig Energie frei. Das ist sozusagen sehr plakativ, weil es richtig Wumms hat. Man kann sich vorstellen, dass das da selbst bei den Männern ganz gut ankommt. Ich habe verschiedene Genres im Repertoire. Die klassische Musik wäre auf dem Wacken quasi ein Hybrid, eine eigentlich klassische Nummer, aber ein bisschen auf Rockig umgedichtet. Ich komme aus der frühen Jazzmusik, alles, was frühe Jazzmusik ist, das hat mir gut gefallen und das präsentiere ich natürlich auch. Auch, weil es nicht mehr so viele Leute gibt, die das spielen.

Und Boogie – das mögen die Leute, da gehen die richtig ab. Und dann ist es nicht weit bis Rock’n’Roll. Außerdem spiele ich auch sehr viel eigene Kompositionen. Jeder Pianist will natürlich auch seinen eigenen musikalischen Ausdruck, seine eigene musikalische Sprache finden. Die Leute fragen mich immer, wie ich kreativ werde. Wenn du so ein leeres Blatt Papier vor dir hast, wie entwickelst du Musik? Ich suche mir gerne Strukturen, die mir im Alltag begegnen. Es gab zum Beispiel ein Stück, das habe ich meiner Nichte gewidmet, die Hannah heißt. Der Name ist ein klassisches Palindrom. Das Besondere am Palindrom ist, wenn du dich in der Mitte des Wortes befindest, dass rechts und links die Buchstaben gleich sind. Also habe ich gedacht, ich kann das auch mit dem Tastaturspiegel nachahmen und hab mir vorgestellt, wie man das spielt. Du kannst aus so einem Thema auch ein Stück Musik machen. Das ist immer mein Ansatz gewesen. Sowas ist auch sehr plakativ und das finden die Leute toll, weil sie dann auch richtig nachvollziehen können, wie ist denn so ein Stück entstanden, und wie kann man das übersetzen.

Das Herz schlägt für die Jazzmusik

Wir haben schon ein bisschen darüber gesprochen, was Sie zu der Musik inspiriert. Gibt es aber auch Personen, Künstler:innen, die Sie inspiriert haben?

Ich hatte viele große Vorbilder. Verschiedenste Vorbilder, die toll gespielt haben, die mich gleich mit ihrer Musik getroffen haben. Musik, die ich so gar nicht spielen konnte. David Horowitz ist so jemand, der Typ war mega, einer der größten Super-Virtuosen des letzten Jahrhunderts. Er spielt so luftig und leicht, hat aber auch seine Schwierigkeiten als Mensch – aber er spielt hinreißend. Genauso wie Keith Jarett, der die Jazz-Community so beeinflusst hat mit seiner Art und Weise zu spielen. Das hat mich wahnsinnig getroffen.

Aber ich fand auch Victor Borge toll. Der ist auch ein fantastischer, klassisch ausgebildeter Meisterspieler gewesen, der aber dann Comedian geworden ist. Er spielt toll Klavier, aber eigentlich nie ein Stück zu Ende, machte mit den Leuten eher Comedy – also ein Musik-Kabarettist, würde man wohl sagen. Er hatte eine ganz eigene, persönliche Art und ich habe dadurch eine Menge von ihm gelernt. Mein musikalisches Herz schlägt natürlich auch mit allen Jazzmusikern, da gab es tolle Pianisten, die ich sehr liebe. Die ich als Kind zu einer Zeit gehört habe, als kein Mensch das gemacht hat, weil alle eben in den 70er- und 80er-Jahren Popmusik-Fans waren. Aber ich glaube, Nerds wie ich treffen sich irgendwann.

Gibt es einen Spielort während Ihrer Tournee, auf den Sie sich besonders freuen?

Ja, gerade hier auf NRW freue ich mich. Das sind Großkonzerthäuser wie das Konzerthaus Dortmund. Das hat auch schon eine Historie. Ich bin selber in Dortmund großgeworden, weil meine Mutter an der Musikhochschule Gesangsdozentin war. Das ist ein tolles Haus, das Konzerthaus. Ich habe auch mitgeholfen, als damals Gelder dafür gesammelt wurden. Meine ganze Hood, meine ganze Community saß da. Auch heute noch.

Auf die Tonhalle in Düsseldorf freue ich mich auch sehr. Es gab früher eine Serie in Deutschland, die hieß Hot Jazz Meeting. Da kamen verschiedene Jazz-Künstler zusammen an einem Abend. Vier oder fünf Main-Acts. Da haben sie mich immer mit dazu genommen, weil ich vorweg immer ein bisschen gespielt habe. In der Rotunde war immer eine Jam-Session. Das war eigentlich das Schönste, da saßen alle in der Runde und es war was los. Ich glaube, das war der Beginn meiner Karriere und deswegen habe ich hier in Düsseldorf immer sehr, sehr gern gespielt. Düsseldorf ist auch ein Zentrum für Klaviermusik und Tradition. In der Philharmonie in Köln ist es natürlich eine Ehre zu spielen, dort einen Termin zu bekommen ist ein Privileg als Künstler.

Steinway & Sons war der perfekte Treffpunkt für das Interview. Eine artgerechte Umgebung für einen Star-Pianisten. Foto: Alex Mayschak

Über Hamburg und die große weite Welt

Ihre Heimat ist Hamburg. Entstehen dort denn auch vor allem Ihre Stücke?

Ich habe ein Studio in einen umgebauten Pferdestall errichtet. Da setze ich mich hin, da habe ich Zeit und kann eine Menge rumprobieren und experimentieren. Jetzt auch für den Wacken-Auftritt 2025, wo ich natürlich auch noch sehen muss, was ich denn da eigentlich in der Stunde mache.

Sind Sie dann eher der Typ Heimweh oder Fernweh?

Oh, das ist eine gute Frage. Da bin ich ein Yin und Yang. Wenn ich zu Hause bin, habe ich immer Fernweh. Auf Reisen wird man auch wahnsinnig viel inspiriert. Auch für Musikstücke. Die beste Inspiration war zum Beispiel in Sibirien, damals in Kamchatka. Das ist ganz im Osten von Sibirien. Da gab es eine kleine Musikschule und die haben mir erzählt, dass mal ein Eskimo, die da im Norden leben, runterkam ins Dorf, weil er was für seine Großmutter besorgen musste. Und da hat er in der Musikschule das erste Mal im Leben ein Klavier gesehen. Er hat eine Melodie gespielt, die ihm seine Großmutter zum Einschlafen immer vorgesungen hat. Er hat die Melodie einfach so gespielt, weil es so ein intuitives Instrument ist. Und das ist das Lied „Eskimo“ (Anmk.: Spielt auf dem Piano eine Melodie vor).  Auf solche Ideen kommst du natürlich nur, wenn du reist und rausgehst, wenn du Leute kennenlernst, mit denen du redest. Wenn ich in der Ferne bin, habe ich aber auch Heimweh.

Haben Sie einen Wunsch oder eine Vorstellung, wie sich die Musik weiterentwickeln soll?

Ich würde aus dieser Gemengelage von verschiedenen Musikstilen versuchen, immer weiter meine Musik zu entwickeln. Das ist ein ewiger Prozess. Das ist nicht abgeschlossen irgendwann, sondern du bist immer dabei. Ich glaube, wenn ich irgendwann mal sagen könnte, das ist mein eigener Stil. Das ist etwas, was ich jetzt auch schon von meinen Kinder immer höre. Die wissen genau, dass ich das bin. Auch im Radio oder Fernsehen. Das ist für mich schon ein großes Kompliment, dass man sagt: „Okay, das ist dein Stil!“

Für die einen ist es nur ein Klavier, für Joja Wendt ist es die große Liebe. Foto: Adobe Stock

Mehr zu Joja Wendt auf der Website.
NRW-Termine: 17.10 Konzerthaus Dortmund, 18.10. Tonhalle Düsseldorf, 19.10. Philharmonie Köln

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