Schauspielhaus Bochum: Eines langen Tages Reise in die Nacht

Trümmer einer Familie. Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Schauspielhaus Bochum. Guy Clemens, Pierre Bokma, Elsie de Brauw (v. li.). Foto: Armin_Smailovic
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Das Schauspielhaus Bochum zeigt das Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill. Der amerikanische Autor bewältigte mit dem autobiografischen Stück seine eigene Kindheit. Das Programmheft zitiert die bewegende Widmung O’Neills an seine Frau:

LIEBSTE: Ich schenke Dir das Originalmanuskript dieses Stücks über einen alten Kummer, geschrieben mit Blut und Tränen. Eine völlig unpassende Gabe, so könnte es scheinen, zur Feier eines Glückstages. Du aber wirst es verstehen. Es ist als Anerkennung gedacht für Deine Liebe und Zärtlichkeit, die mir jenes Vertrauen in die Liebe gaben, das es mir ermöglichte, mich endlich mit meinen Toten auseinanderzusetzen und dieses Stück zu schreiben – und zwar mit großem Mitgefühl und Verständnis und auch tiefer Vergebung für alle vier gepeinigten Tyrones. Diese zwölf Jahre, meine Einzige Geliebte, waren eine Reise in das Licht – in die Liebe. Du kennst meine Dankbarkeit. Und meine Liebe!

GENE, Tao House, 22. Juli 1941

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Johan Simons inszeniert „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill in Bochum

Am Anfang steht ein großer Knall. Eine Explosion zerstört die trügerische Idylle eines kleinen Holzhauses irgendwo im Nirgendwo, um das romantisch-schaurige Nebel ziehen.

Aus den Trümmern krabbeln, offenbar unverletzt und auch nicht sonderlich erstaunt, ein Mann und eine Frau hervor: Mary (Elsie de Brauw) und James (Pierre Bokma) Tyrone fangen direkt an, ihre zerstörte Existenz zu ordnen. Gartenstühle und -bank, ein Tisch, ein Blumentopf, der nicht steht, ein Schaukelstuhl, Hochprozentiges und Gläser – mehr braucht es nicht, um das Sommerhaus der Tyrones am Meer zu illustrieren. Durch Milchglas-Scheiben wird schemenhaft die Außenwelt angedeutet.

Schau, was kommt von draußen rein… Django Gantz. Foto: Armin Smailovic

Der Trümmerhaufen auf der Bühne ist ein Sinnbild der inneren Verfassung der Figuren. Im ersten Teil des Abends sind alle immer wieder damit beschäftigt, das Äußere aufzuräumen, tragen und ordnen Holzlatten, Eisenträger und Gegenstände. Eine Sisyphusarbeit, denn was hilft die äußere Ordnung, wenn es drinnen nicht wohnlich ist? Oder ist es die Hoffnung, das Leben aufräumen zu können? Nach der Pause ist das Chaos gelichtet, alles ist Bausatz-artig geordnet und aufgestapelt. Das passt, denn auch im Stück sind nach der Pause die Fronten klarer.

Aufräumarbeiten als Übersprungshandlung. Alexander Wertmann als Edmund Tyrone. Foto: Armin Smailovic

Zum Inhalt

„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ zeigt einen Tag im Leben der Familie Tyrone. Der Tag von James Tyrone, einem einst gefeierten Schauspieler, seiner Frau Mary und ihren beiden erwachsenen Söhnen Jamie und Edmund beginnt scheinbar harmonisch. Die Familie verbringt den Sommer in ihrem Haus am Meer, nachdem sie den Rest des Jahres wie gewohnt auf Theater-Tournee mit James Tyrones Stück von Stadt zu Stadt gezogen sind. Doch hinter der Fassade lauern die Probleme. Die morphiumsüchtige Mutter Mary kam gerade von einer Entziehungskur zurück, der alkoholkranke James trinkt sich durch den Tag, und die beiden Söhne Jamie und der jüngere Edmund, beides Trinker und der jüngere an Tuberkulose erkrankt, reiben sich auf in der Sorge um die Mutter und dem Kampf mit dem tyrannischen Vater. Der Elefant im Raum ist der früh verstorbene Sohn Eugene.

Ist das der Geist des früh verstorbenen Eugene? Konstantin Bühler, Elsie de Brauw (v. li.). Foto:
© Armin Smailovic

Im Laufe des Tages versinken die Figuren immer tiefer in Erinnerungen an die Vergangenheit. Inmitten von Schuldzuweisungen und betäubenden Rauschzuständen suchen sie nach den Wurzeln ihres Scheiterns und nach Vergebung – unfähig, sich selbst oder einander zu verzeihen. Doch trotz allem ist die Familie durch eine tiefe, komplizierte Liebe verbunden, die ihnen, obwohl sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, einen Funken Hoffnung auf ein besseres Morgen gibt.

Psychologisches Kammerspiel

Intendant Johan Simons inszeniert das Familiendrama als psychologisches Kammerspiel. Von Anfang an brodelt es unter der Oberfläche, die Spannung ist nahezu mit Händen greifbar. Der behaupteten Harmonie scheint nicht zu trauen zu sein – dieser Ton ist schon durch die Explosion am Anfang gesetzt. Simons verzichtet nach dem großen Knall auf große Gesten und Effekte. Sein Interesse gilt der Hassliebe der Figuren untereinander, er zeigt sich als feinsinniger Menschenfreund und -kenner. Auch durch die Kostüme (Katrin Aschendorf) scheint die bröckelige Fassade: Kräftige Farben und ordentliches Erscheinen sind dem Ehepaar wichtig, vor allem Mary scheint viel auf ihr Erscheinungsbild zu geben – aber James‘ Anzug ist im Laufe des Abends knitterig, die dünnen, flüchtigen, wehenden Stoffe Marys scheinen ihrer inneren Verfassung zu entsprechen.

Auch bildlich am Boden sind alle Mitglieder der Familie Tyrone. Pierre Bokma, Alexander Wertmann (v. li.). Foto: Armin Smailovic

Wenn die Söhne James junior (Guy Clemens) und Edmund (Alexander Wertmann) aus dem Zuschauerraum auftreten, wird in Ton, Haltung und Kostümen gezeigt: Jetzt kommt die Jugend! Scheinbar ein vergnügtes, sich innig liebendes Brüderpaar, der ältere James rührend um den jüngeren Edmund besorgt.

Schauspieler-Theater at it’s best

Die Zuschauer:innen erleben einen Abend, der fein gezeichnete familiäre Kämpfe zeigt. Zerrissen zwischen Liebe, Hass und Eifersucht sind alle Handelnden. Das vitale Interesse Johan Simons an den Figuren und ihrer Geschichte ist deutlich zu spüren. Sein Ensemble zeigt die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle, ohne die Figuren zu verurteilen. Die psychologische Genauigkeit der Inszenierung berührt und macht das Gezeigte nachvollziehbar. Der Weg der Familie erscheint in ihrer Ausweglosigkeit tragisch, aber nicht abstoßend, denn die Figuren sind ebenso liebenswert wie sie zur Distanzierung auffordern.

Nie alleine, aber immer einsam ist die morphuimsüchtige Mutter Mary Tyrone (Elsie de Brauw). Foto: Armin Smailovic
Vater James Tyrone und das todkranke Nesthäkchen Edmund. Alexander Wertmann, Pierre Bokma (v. li.). Foto: Armin Smailovic
Auch die Brüder sind einander in Hassliebe verbunden. Guy Clemens, Alexander Wertmann (v. li.). Foto: Armin Smailovic
Distanz und der Versuch der Nähe zwischen Mutter und Sohn. Elsie de Brauw, Konstantin Bühler, Pierre Bokma (v. li.). Foto: Armin Smailovic
Die Flasche immer im Anschlag. Pierre Bokma ist James Tyrone. Foto: Armin Smailovic

Die Menschendarsteller:innen auf der Bühne sind sensationell. Das Ensemble strahlt und macht die dreieinhalb Stunden zu einem Erlebnis. Diesen Darsteller:innen zusehen zu dürfen, wie sie ihre Figuren entwickeln, ist eine Freude. Transparent, verletzlich und verletzend, nachvollziehbar, zart und auf der anderen Seite brachial – die ganze Bandbreite allzu menschlicher Emotionen ergeben einen grandiosen Abend. Kein bisschen angestaubt, topaktuell und ergreifend!

Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O’Neill
Regie: Johan Simons
Mit: Pierre Bokma, Konstantin Bühler, Guy Clemens, Django Gantz / Lukas von der Lühe, Alexander Wertmann, Elsie de Brauw
Termine: Freitag, 11. Oktober, 19.30 Uhr (+ Einführung 19.00 Uhr), Mittwoch, 30. Oktober, 19.30 Uhr (+ Einführung 19.00 Uhr)

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