Vier Thesen fürs Revier: So wird das Ruhrgebiet zukunftsfähig

Foto: Lina Niermann
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Das Ruhrgebiet ist international noch keine wettbewerbsstarke Region, stellt ein Bochumer Forscherteam des Zentrums für interdisziplinäre Regionalforschung, kurz Zefir, fest. Ob sich dies in den nächsten zehn Jahren noch ändert, hängt nach Meinung der Wissenschaftler maßgeblich von vier Faktoren ab. Ihre Thesen stellten sie am 1. März auf einer Tagung an der Ruhruniversität vor.

Bereits vor sechs Jahren hatte das Forscherteam einen Strich unter den Strukturwandel gezogen. Der Titel der kritischen Bilanz lautete damals: „Viel erreicht – wenig gewonnen: Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet“. Ende 2018 schließt nun endgültig die letzte Zeche. Der Strukturwandel ist damit offiziell beendet. Ein guter Zeitpunkt also, um noch einmal einen Blick auf die Altlasten und die bestehenden Herausforderungen der Region zu werfen. Das taten die Forscher, bestehend aus den Professoren Jörg Bogumil, Rolf G. Heinze, Franz Lehner, Klaus Peter Strohmeier, Jörg-Peter Schräpler und Sören Petermann, anlässlich der Tagung „Die Zukunft des Ruhrgebiets – Was kommt nach dem Strukturwandel?“. Ihr Resümee: Es gibt noch viel zu tun.

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Vernetzung und Spezialisierung der Region

Die erste zentrale Forderung der Wissenschaftler: Die Kommunen des Ruhrgebiets müssten sich besser vernetzen und stärker zusammenarbeiten. Ausbaufähig sei unter anderem die Kooperation zwischen Städten im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs. Statt unübersichtliche Tarifzonen und Grenzen im Bus- und Bahnnetz müsse es ein NRW-weit einheitliches Konzept geben sowie eine klare Linie beim weiteren Ausbau des ÖPNVs. Außerdem sehen die Forscher es als notwendig an, dass sich das Ruhrgebiet funktional differenziert und flexibel spezialisiert. „Dazu muss die Strukturpolitik des Landes neu ausgerichtet werden“, sagte Jörg Bogumil, „sie muss die Herausbildung wirtschaftlicher Kerne mit hoher Spezialisierung und internationaler Sichtbarkeit fördern.“ Als gelungenes Beispiel für ein hoch spezialisiertes und international erfolgreiches Unternehmen nannten die Wissenschaftler den Pumpenhersteller Wilo in Dortmund, der seine technisch ausgefeilten Pumpensysteme in die ganze Welt verkauft.

Engere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft

Was für die Kommunen gelte, gelte ebenso für Forschung und Wirtschaft. Zwar hat das Ruhrgebiet das dichteste Hochschulnetz europaweit und ist eine starke Wissenschaftsregion, auf diesen Lorbeeren dürfe man sich aber nicht ausruhen, machte Rolf Heinze klar. Allein die Menge an Universitäten sage noch nichts darüber aus, wie innovativ und zukunftsfähig eine Region tatsächlich sei. In seinem Vortrag plädierte er für eine engere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft in „inhaltlich fokussierten Kompetenzzirkeln“. „Die Innovationsforschung zeigt, dass es nicht mehr isolierte Schlüsseltechnologien und Schlüsselakteure sind, welche Beschäftigung und Wohlstand in Regionen vorantreiben, sondern die Vernetzung von Akteuren und die Verknüpfung von Technologien in Zukunftsfeldern“, so der Soziologe weiter.

Mehr Investitionen in Menschen

Die dritte These der Wissenschaftler: Das Revier benötigt dringend mehr Investitionen in die nachwachsende Generation. Sie fordern eine echte Bildungsoffensive, die von massiven baulichen und sozialen Investitionen flankiert wird. Im Ruhrgebiet gebe es noch immer eine deutliche Segregation zwischen reichem Süden und armem Norden. Aber gerade in den ehemaligen Arbeitervierteln nördlich der A40 werden die meisten Kinder geboren. Um in der Zukunft wettbewerbsstark zu sein, müsse man sich verstärkt um diese vernachlässigten Stadtbezirke kümmern. „Ziel muss es sein, niedergehende Quartiere, insbesondere ehemalige Arbeiterviertel, zu revitalisieren“, sagte Peter Strohmeier. Dabei sei es besonders wichtig, dass Ungleiches auch ungleich behandelt werde. So müssten beispielsweise Schulen in sogenannten Problembezirken mehr Ressourcen pro Schülerin oder Schüler erhalten als anderswo. Jörg-Peter Schräpler kritisierte den bereits bestehenden Kreissozialindex als zu ungenau. Dieser Index, mit dem das Schulministerium die soziale Belastung in einem Kreis bzw. einer kreisfreien Stadt misst, wird zum Beispiel bei der Verteilung von Lehrerstellen zugrunde gelegt. Gibt es in einer Stadt eine hohe Sozialhilfequote und/oder einen hohen Anteil an Schülern mit Zuwanderungsgeschichte, erhält die Stadt gemäß Index zusätzliches Lehrpersonal zugewiesen. Das ist Schräpler und seinen Kollegen zu pauschal. Sie fordern einen schulscharfen Sozialindex, der präzise die genaue Situation an jeder Schule erfasst. Außerdem dürfe sich die Quartiersarbeit nicht allein auf die Schulen beschränken: Es müssten allgemein mehr Gestaltungshilfen angeboten werden in Vierteln, in denen die Bewohner zwar um ihre Probleme wissen, sie aber nicht selbstorganisiert lösen können.

Regionale Wirtschaftsförderungsgesellschaft und Dekadenprojekte

Laut der Forscher braucht das Revier, um international erfolgreich zu sein, viertens eine Reorganisation der Wirtschaftsförderung. „Das Ziel, innerhalb von zehn Jahren zu einer internationalen wettbewerbsstarken Region zu werden, ist gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung und ihrer möglichen Folgen, nur zu erreichen, wenn das Ruhrgebiet seine im weitesten Sinne strukturpolitischen Anstrengungen systematisch in Dekadenprojekten bündelt und organisiert“, meint Professor Franz Lehner. Sein Vorschlag: eine größere Unabhängigkeit von EU-Förderprogrammen und stattdessen eine starke regionale Wirtschaftsförderungsgesellschaft, an der auch privatwirtschaftliche Akteure beteiligt sind. Aufgabe einer solchen wäre dann die Unterstützung von richtungsweisenden und genau fokussierten Dekadenprojekten, d. h. Projekten mit einer Laufzeit von zehn Jahren.

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